Heike Thormann, Autorin, Lektorin, Publizistin
Heike Thormann
Autorin, Lektorin, Buchproduzentin

Artikel
"Morgenseiten schreiben"

von Heike Thormann

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Die Bestsellerautorin und Kreativtrainerin Julia Cameron hat ein Faible für einfache, aber wirkungsvolle Methoden. Ihre Morgenseiten sind ein Beispiel dafür. Mit ihnen können Sie leichter Zugang zu sich selbst finden, Ihre Mitmenschen besser verstehen und Ihre Kreativität fördern. Und das alles gleichzeitig und einfach zu erlernen.

Im Studium habe ich mich an diversen Ferienjobs versucht und meist gezielt die gewählt, die möglichst gut bezahlt waren, damit ich dann wieder einige Monate in Ruhe studieren konnte.

Nun waren das allerdings oft nicht die intellektuell anspruchsvollsten Tätigkeiten. Und so hatte ich einmal den lieben langen Tag nichts weiter zu tun, als Bretter durch eine Verpackungsmaschine zu jagen. Das Ganze noch dazu bei einem Höllenlärm, sodass man sich nicht einmal mit den Kollegen unterhalten konnte.

Aber was sich jetzt vielleicht nach einem Alptraum-Job anhört, hatte auch sein Gutes: Ich hatte nämlich schnell den Dreh heraus, sozusagen in Trance zu arbeiten. Das heißt, mich in mich selbst zu versenken und einen Großteil meiner an der Oberfläche treibenden Gedanken auszuschalten.

Das war ein sehr eigenartiges Gefühl – zumal für einen (damals noch sehr starken) Kopfmenschen wie mich. Aber es war auch eine interessante Erfahrung, wie man Schichten seines Selbst erreichen kann, die einem im normalen Alltagsgeschehen nur schwer zugänglich sind.

Einen ähnlichen Zugang habe ich erst wieder durch das Schreiben gefunden. Und auch wenn ich heute nicht mehr auf das Hilfsmittel Schreiben angewiesen bin und vieles „im Kopf machen kann“, sind Methoden wie die kreative Schreibtechnik Free Writing oder Julia Camerons Morgenseiten doch eine gute Möglichkeit, wie man sozusagen mit sich selbst in Kontakt treten kann.

Wie funktionieren Julia Camerons Morgenseiten?

Das Konzept der „Morgenseiten“, das auf die Bestsellerautorin und Kreativtrainerin Julia Cameron zurückgeht, ist im Prinzip ganz einfach: Sie schreiben jeden Morgen drei DIN-A4-Seiten lang ungekürzt das auf, was Ihnen in den Sinn kommt.

Mehr nicht? Genau, mehr nicht. Mit einer kleinen Einschränkung: Sie sollten nach Cameron versuchen, auch wirklich drei Seiten zu schreiben. Denn wenn Sie weniger schreiben, sind Sie möglicherweise noch nicht wirklich im Fluss, „denken“ (prüfen, kontrollieren usw.) noch zu viel beim Schreiben.

Wobei es nicht wichtig ist, was Sie schreiben. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Thema umzusetzen oder einen „richtigen Text“ zu schreiben. Im Gegenteil: Diese Art von Zensur wollen Ihnen die Morgenseiten austreiben.

Die Morgenseiten sind auch kein Tagebuch, in dem Sie festhalten, was Sie alles erlebt haben. Sie können diese Erlebnisse zwar aufschreiben, wenn sie Ihnen in den Sinn kommen, Sie müssen es aber nicht.

Ziel der Morgenseiten ist es, zu schreiben. Nicht, etwas Bestimmtes zu schreiben. Selbst wenn das bedeutet, dass Sie scheinbar nur „Mist“ produzieren: Gefühlsausbrüche, Nichtigkeiten, Ihr zerknitterter Schlafanzug, das schlechte Wetter oder der Umtrunk in der Firma, der am Mittag ansteht.

Wichtig ist lediglich, dass Sie schreiben. Und das am besten so schnell, vor allem aber so unzensiert wie möglich. Deshalb empfiehlt Julia Cameron auch, mit der Hand zu schreiben, selbst wenn es mit dem Computer schneller gehen sollte. Denn wenn wir am Rechner schreiben, glauben wir oft unbewusst, „richtige, offizielle“ Texte schreiben zu müssen, - und schon schlägt der Zensor wieder zu.

Außerdem hält Julia Cameron es für wichtig, dass Sie die Morgenseiten morgens schreiben. Sozusagen als Start in den noch unbeschriebenen Tag, nicht als abendlichen Rückblick wie etwa beim Tagebuch.

Noch etwas: Wenn Sie schon Ihr Tagebuch vermutlich im Normalfall nicht herausrücken, sollten Sie das mit Ihren Morgenseiten erst recht nicht machen. Ihre Morgenseiten sind für Sie, Ihr ganz persönlicher Ort, an dem Sie sich so zeigen können, wie Sie sind – mit all Ihren Fehlern und Schwächen, Hoffnungen und Träumen. Ungeschminkt und ungeschönt.

Was bringen Ihnen die Morgenseiten?

So, wofür ist jetzt der ganze Aufwand gut? Immerhin müssen Sie vielleicht früher aufstehen, Ihre Hand quälen und sich durch Berge von Text kämpfen, den Sie besser nie veröffentlichen.

Nun, zunächst einmal sind sie in der Tat eine Möglichkeit, ein bisschen „Großreine“ zu machen und mentalen und emotionalen Abfall loszuwerden, bevor Sie sich in den Tag stürzen. All die kleinen Ärgernisse und unguten Gefühle können Sie hier abladen, bevor sie in der Welt Schaden anrichten. Das ist nicht das schlechteste Ergebnis, zumal Sie, wenn Sie das regelmäßig machen, oft auch automatisch anfangen, Ihre Sicht der Dinge ein bisschen zu hinterfragen.

Aber es muss ja nicht gleich alles negativ sein. Vor allem können Sie sich zunächst einmal besser kennenlernen. Ungeschminkt, ungefiltert und ohne die Verkleidungen und Masken, die wir anderen gegenüber so gern zu tragen pflegen – bis wir selbst an sie glauben.

Sie können mit den verschiedenen „Stimmen“ in sich in Verbindung treten. Mit den vielen Wesensanteilen und „Rollen“, aus denen jeder von uns sich zusammensetzt. Mit dem Mahner, der Optimistin, dem besorgten Vater, der taffen Chefin. Vielleicht werden Sie auch Stimmen entdecken, die Sie im Alltag unterdrücken oder die Sie schon vor Jahren verloren zu haben glaubten. Lassen Sie sie heraus. Zuerst hier auf dem Papier und Stück für Stück dann im realen Leben. Das hilft Ihnen, ausgeglichener, „vollständiger“ zu werden.

Das Gleiche gilt auch für Ihr Leben und Ihre Vergangenheit. Viele von uns haben sich auch hier – bewusst oder unbewusst – ausgebremst, Erinnerungen abgeblockt, alte Wünsche und Träume begraben. Mit dem, was die Morgenseiten zutage bringen, können Sie wieder Anschluss an diesen Teil Ihres Selbst herstellen.

Und schließlich muss das Ganze nicht auf Sie begrenzt bleiben: Sie werden nicht nur sich selbst besser kennenlernen. Ihre Beobachtungen, Erinnerungen, kurz, Ihre Beschäftigung mit Ihren Mitmenschen wird Ihnen helfen, diese ebenfalls besser wahrzunehmen und ihr Verhalten leichter zu verstehen.

Wundert es Sie da noch, wenn ich Ihnen sage, dass die Morgenseiten nicht nur ein gutes Instrument für die eigene Persönlichkeitsentwicklung sind, sondern auch gut für Ihre Kreativität?

Perspektivwechsel, Einfühlung in andere, der Abbau von Blockaden, das Ausleben vielleicht unterdrückter Persönlichkeitsanteile, der Zugang zu Erinnerungen und Assoziationen, der ungefilterte und unzensierte Umgang mit seinen Gedanken ... all das und mehr sind Grundvoraussetzungen für unsere Kreativität.

Oder wie es der Psychologe Howard Gardner beobachtet hat: Viele kreative Menschen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie in irgendeiner Weise täglich über sich und ihre Umwelt nachdenken und reflektieren. Vielleicht machen Sie das sowieso schon, indem Sie zum Beispiel meditieren. Dann könnten Sie versuchen, Ihre Morgenseiten zu integrieren. Oder vielleicht sind systematische Reflektionen auch neu für Sie. Dann könnten die Morgenseiten ein guter Start dafür sein.

In jedem Fall sind die Morgenseiten ein gutes Instrument, um leichter Zugang zu Ihrem Ich und zu Ihrer Kreativität zu gewinnen.

Und das vermutlich sogar dann, wenn Sie nicht jeden Tag volle drei Seiten schaffen sollten. Denn ich bin immer eher dafür, das Prinzip einer Methode zu leben und sie ggf. an sich anzupassen, statt sie buchstabengetreu und blind zu befolgen. Steigern können Sie sich schließlich ggf. immer noch. :-)

Copyright Heike Thormann
Auf dieser Webseite veröffentlicht am 5.5.2025
Erstveröffentlichung 2008, letzte Überarbeitung 2025

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